Leseprobe Dieter Gutknecht: Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis Alter Musik. Ein Überblick vom Beginn
des 19. Jh. bis zum Zweiten Weltkrieg. 2. bearb. u. erweit. Aufl. ca. 340 S., ISBN 3-9803578-9-9, 24,80 EUR. Zu
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V. Zum Stand aufführungspraktischer Bemühungen heute Ein charakteristisches Signum der sogenannten
Alte-Musik-Bewegung muß in ihrer doppelten Geschichtlichkeit gesehen werden, doppelt in dem Sinne, daß sie sich
bemüht, ein zur Geschichte gewordenes, der Gegenwart fernliegendes Repertoire wiederzubeleben, und in diesem
ihrem Bemühen selbst dem geschichtlichen Prozeß unterworfen ist.
Schon Anfang des 19. Jhs. sind musikwissenschaftliche Forschung und praktischer Musikersinn angetreten, Alte Musik so authentisch wie zu ihrer Entstehungszeit wieder hörbar zu machen. Zu Beginn unseres Jahrhunderts begann die intensive Erprobung des adäquaten historischen Instrumentariums in Ensembles wie der »Deutschen Vereinigung für alte Musik«, der »Société de concerts des instruments anciens« oder später dann der »Saarbrücker Vereinigung für alte Musik«, die Fritz Neumeyer gründete, bis hin zum sogenannten »Scheck-Wenzinger-Kreis«, der noch bis in die 50er Jahre konzertierte, und den Ensembles »Cappella Coloniensis«, »Concentus musicus Wien« oder »La petite Bande«, die für die gegenwärtige Situation stehen. Aber gerade diese lange Zeitspanne macht es notwendig, das Erreichte in Frage zu stellen und darüber nachzudenken, ob die Musikpraxis tatsächlich noch einer wissenschaftlich objektiven Basis gehorcht oder ob sie nicht vielmehr einer Eigengesetzlichkeit folgt, die das Etikett ,,historisch'' kaum noch verdient. Eingedenk der Erkenntnis von Quantz, daß »wohl keine Wissenschaft jedermanns Urtheile so sehr unterworfen, als die Musik«,1 erscheint dies um so notwendiger.
Für unseren Zusammenhang von Bedeutung ist der Verweis auf die Zugehörigkeit der Musik zu einer Wissenschaft, einer techné, deren Ausübung wohldefinierten Regeln folgt und die doch zugleich »jedermanns Urtheile«, also dem ganz persönlichen Geschmack, unterworfen ist. Wenn schon Quantz als Musiker, Komponist und Theoretiker in seiner Zeit dies als unauflösbares Dilemma empfand, wie schwierig muß es dann erst für einen heutigen Musiker sein, verbindliche ,,Spielregeln'' für den Umgang mit Musik der damaligen Zeit zu finden. Nun kann man in Quantz' Äußerung natürlich auch hineinlesen, daß eine gewisse Beliebigkeit der Interpretation gleichsam im Wesen der Musik selbst liegt - und es hat den Anschein, als habe sich die Alte-Musik-Bewegung in genau diesen Zustand hineinmusiziert. Gleichzeitig zu beobachten ist jedoch auch ein Festhalten an vermeintlich gesicherten Erkenntnissen, z.B. in Besetzungsfragen, die einer kritischen Überprüfung durchaus nicht immer standhalten.
Vor etwa zehn Jahren kritisierte Eduard Melkus in einer Bestandsaufnahme für die »Österreichische Musikzeitung« Irrwege bei der Wiedergabe vornehmlich der Musik Johann Sebastian Bachs, und zwar sowohl in Hinblick auf die historische Musizierpraxis als auch auf die nach Spielweise und Ausstattung der Instrumente ,,moderne''.2 Der modernen Interpretation warf Melkus vor, daß sie noch immer einer spätromantischen Ästhetik verpflichtet sei, der historischen Interpretation hingegen lastete er an, sie huldige einem neutralen, seelenlosen Klang, der häufig allzu »leicht« und »ausdruckslos« sei;3 ferner bemängelte er eine »Zerstückelung der Linie« und einen »historischen Manierismus«, verstanden als »bewußte Ausschaltung des persönlichen Ausdrucks«.4 Aus heutiger Sicht ist als Hauptkritikpunkt seines umfangreichen Katalogs eine Feststellung hervorzuheben, die er zum Thema »Zeitmaße« macht: »Alle Satzformen werden in Tanzcharakter umgeformt«.5 Dies trifft zweifellos auf eine Vielzahl von Interpretationen mit historischen Instrumenten zu: Der tänzerische Duktus dominiert, und zwar ganz unabhängig von der Tempowahl.
Auch im Bereich der Vokalmusik sieht Melkus Gefahren. Für problematisch hält er z.B. die »Verwendung von Knabenstimmen für die hohen Stimmlagen (entsprechend dem historischen Befund)«, denn diese seien heute in den seltensten Fällen so geschult, daß sie der Ästhetik der Alten Musik gerecht werden könnten.6
Schon Mattheson erachtete Frauenstimmen als »schier unentbehrlich [...], bevorab wo man keine Verschnittene haben kan. Ich weiß, was mirs für Mühe und Verdruß gekostet hat, die Sängerinnen in der hiesigen Dom-Kirche einzuführen. Anfangs wurde verlangt, ich sollte sie bey Leibe so stellen, daß sie kein Mensch zu sehen kriegte; zuletzt aber konte man sie nie genug hören und sehen«; einschränkend fügt er allerdings hinzu: »Doch auf unsern andern Stadt-Chören will es sich hier noch nicht mit dem weiblichen Geschlechte thun lassen«.7 Immerhin ist damit eine Tradition belegt, die Frauenstimmen von der Mitwirkung in chorischen Kirchenmusiken nicht ausschließt. (Als zusätzliches Argument für den Einsatz von Frauenstimmen führt Mattheson an: »Von den Knaben sind wenig nutz. Ich meine die Capell-Knaben: Ehe sie eine leidliche Fähigkeit zum Singen bekommen, ist die Diskant=Stimme fort. Und wenn sie ein wenig mehr wissen, oder einen fertigern Hals haben, als andre, pflegen sie sich so viel einzubilden, daß ihr Wesen unleidlich ist, und hat doch keinen Bestand«.8)
Mithin darf Mattheson, der seit 1715 das Kapellmeisteramt am Hamburger Dom bekleidete, als gewichtiger Zeuge dafür gelten, daß der Einsatz von Knabenstimmen bei der Aufführung von Kirchenmusikwerken des 18. Jhs. nicht generell als authentisch anzusehen ist, sondern sich jeweils nach historischen Gegebenheiten und lokalen Usancen zu richten hat.
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In dem Jahrzehnt seit Melkus' kritischer Bestandsaufnahme hat sich eine Entwicklung vollzogen, die man eine Globalisierung der Alten Musik nennen könnte. Den ehemals vorherrschenden Ensembles aus dem niederländisch-flämischen Raum, aus England, Frankreich und Deutschland haben sich solche aus Südeuropa, Nordamerika und sogar aus Japan hinzugesellt. Erstaunlicherweise hat dies nicht zu einer größeren Interpretationsvielfalt geführt, eher schon ist eine Tendenz zur stilistischen Vereinheitlichung zu erkennen. Wenn es je so etwas gab wie eine englische, flämisch-niederländische, Wiener oder gar Kölner Schule der historischen Aufführungspraxis, geprägt vor allem von Orchesterleitern wie Christopher Hogwood, Frans Brüggen, Nikolaus Harnoncourt oder Reinhard Goebel, dann haben diese Schulen eine Generation von Nachwuchsensembles hervorgebracht, die mehr den stilistischen Gleichklang anstrebt, wie sich an einer Vielzahl von Übereinstimmungen zeigt.
Als erstes Beispiel dafür sei die Vorhaltsausführung vor allem vor Trillern erwähnt. Bei fast allen der heute tonangebenden Ensembles ist festzustellen, daß sie - stilistisch verallgemeinernd für die gesamte Alte Musik - eine Vorhalts-Hauptnotengestaltung aufführen, die erst Carl Philipp Emanuel Bach in seinem »Versuch« als verbindlich für seine Musik und diejenige seiner Zeit- und Stilgenossen proklamierte. Zwei Paragraphen, die die zeitliche Festlegung und die exakte Ausführung beschreiben, seien hier im Original aufgeführt: § 5 »Vermöge des ersten Umstandes[§ 4 ,,Diese kleinen Nötgen sind [...] in ihrer Geltung verschieden''] hat man seit nicht gar langer Zeit angefangen, diese Vorschläge nach ihrer wahren Geltung anzudeuten, anstatt daß man vor diesem alle Vorschläge durch Acht=Theile zu bezeichnen pflegte [...] Damahls waren die Vorschläge von so verschidener Geltung noch nicht eingeführet; bey unserem heutigen Geschmacke hingegen können wir um so viel weniger ohne die genaue Andeutung derselben fortkommen, je weniger alle Regeln über ihre Geltung hinlänglich sind, weil allerley Arten bey allerlei Noten vorkommen können«.9
Carl Philipp Emanuel Bach unterscheidet demnach klar zwischen einer Ausführungsart, die zeitlich wohl eher der Generation seines Vaters Johann Sebastian Bachs angehört, und einer neuartigen Auffassung, die seiner Musik eigentümlich ist. Von der Dauer der Vorschlagsnote heißt es im weiteren präzise: »Nach der gewöhnlichen Regel wegen der Geltung dieser Vorschläge finden wir, daß sie die Hälffte von einer folgenden Note, welche gleiche Theile hat [...] und bey ungleichen Theilen [...] zwey Drittheile bekommen«.10 Nach diesen klaren Forderungen ist es unzweifelhaft, daß eine Zweidrittel-Auflösung von Vorschlägen - in der heutigen Praxis vornehmlich als Vorhalt vor Trillern zu beobachten - in der Musik der Generation vor C.Ph.E. Bach wohl undenkbar war. Die Frage bleibt, ob eine solche Praxis auch noch für die nachfolgende Generation bzw. für die stilistisch anders orientierten Zeitgenossen wie z.B. Haydn oder auch Mozart Geltung hat.11 Daß keiner der späteren Theoretiker in den bekannten Quellenwerken eine so präzise Ausführungsbeschreibung geliefert hat, darf heute nicht bedeuten, eine vermeintliche Generalanweisung für alle Stilbereiche anzuwenden.12
Ähnlich gelagert ist der Fall bei Aufführungen barocker Opern. Es ist nahezu allgemein üblich geworden, die Sänger bei Zwischenkadenzierungen und bei der Schlußkadenz in Rezitativen nicht mehr aussingen zu lassen, sondern - wie es bei einigen Theoretikern nachzulesen ist - noch auf den letzten Silben mit den Dominante-Tonika-Akkorden einzufallen, wobei fast immer eine Halbton-Dissonanz mit der Gesangsstimme entsteht.13 Auch diese Praxis beruht auf einer vielleicht nicht ganz korrekten Interpretation der maßgeblichen Quellen; darum bedarf die neuerlich erhobene Forderung von Winton Dean, die Kadenzakkorde genau so zu plazieren, wie sie in den alten Partituren notiert wurden, einer Berichtigung.14
Bekanntlich stellte Chrysander in der alten Händel-Gesamtausgabe die Kadenzakkorde prinzipiell nach; die Herausgeber der ersten Bände der neuen Hallischen Händel-Ausgabe folgen ihm darin.15 Aus der beträchtlichen Anzahl historischer Quellen seien hier einige herausgegriffen, die diese Vorgehensweise unterstützen. Bei Quantz z.B. liest man folgendes: »Bisweilen wird das Accompagnement unterbrochen, so, daß der Sänger dennoch Freyheit bekömmt, nach Willkür zu recitiren; und die begleitenden Stimmen fallen nur dann u. wann ein, nämlich bey den Einschnitten, wenn der Sänger eine Periode geendiget hat. Hier müssen die Accompagnisten nicht warten, bis der Sänger die letzte Sylbe ausgesprochen hat; sondern sie müssen schon unter der vorletzten oder vorhaltenden Note einfallen; um die Lebhaftigkeit beständig zu unterhalten«.16 Doch wohlgemerkt: Quantz behandelt hier das Kadenzverhalten bei den »Einschnitten« oder Phrasenenden innerhalb des Rezitativs. An diesen Stellen kommt es im Opernrezitativ vornehmlich darauf an, vorwärtsdrängende Handlungsverläufe nicht zu hemmen oder gar zu unterbrechen, was dadurch erreicht wird, daß das Continuo unter der vorletzten, also der Note mit dem Kadenz-Vorhalt, die Kadenz-Akkorde plaziert. Den Begriff »Cadenz« im Sinne von Schlußkadenz bringt Quantz erst gegen Mitte dieses äußerst ausführlichen Paragraphen - ein Zeichen dafür, daß er ihn von den zuvor erörterten Binnenkadenzen unterschieden wissen will. Quantz fährt fort, daß der Baß »mit einer Sicherheit u. Kraft einfallen« müsse, »besonders bey den Cadenzen; denn hier kommt es auf den Baß am meisten an. Dieser muß überhaupt bey allen Cadenzen des theatralischen Recitativs, es mag ein mit Violinen begleitetes, oder nur ein gemeines seyn, seine zwo Noten, welche mehrenteils aus einem fallenden Quintsprunge bestehen, unter der letzten Sylbe anfangen, und nicht zu langsam, sondern mit Lebhaftigkeit anschlagen«.17 Bei den Einschnitten fordert Quantz, daß das Continuo nicht warten solle, bis der Sänger die letzte Silbe ausgesprochen hat, sondern schon bei der vorletzten, dem Vorhalt, einsetzt. Bei der Schlußkadenz aber fordert er den Einsatz unter der letzten Silbe, was mehrdeutig ist, da er nicht klar zwischen weiblicher und männlicher Endung unterscheidet. Da er jedoch zwischen den von ihm aufgeführten Kadenzierungen einen Unterschied macht, kann es sich bei der Schlußkadenz nur um eine verzögerte Ausführung handeln; vielleicht ist ja mit »letzter Sylbe« auch der letzte Ton bzw. der letzte Klang gemeint (in diesem Fall bräuchte man auch nicht zwischen männlichem und weiblichem Schluß zu unterscheiden).
Die divergierende Ausführung läßt Rückschlüsse auf die Harmonieauffassung zu, da ein zeitgleiches Plazieren der Akkorde dissonante Klänge produzieren würde. Trotz dieser Ausführungsanweisung scheint Quantz jedoch eine gewisse Vorsicht der Dissonanz gegenüber walten zu lassen, da er im gleichen Paragraphen nochmals zu den ,,Einschnitt-Kadenzen'' einschränkend bzw. präzisierend ausführt, daß das Continuo nicht warten soll, »bis der Sänger die letzte Sylbe völlig ausgesprochen hat«.18
Auch Georg Philipp Telemann hatte bereits 1733 in seinen »Singe-, Spiel- u. General Bass-Übungen« geschrieben: »Die schlüsse werden in opern sofort angeschlagen, wann der sänger die letzten sylben spricht, in cantaten aber pfleget man sie nachzuschlagen«.19 Eine eher aus der täglichen Praxis erwachsene Ausführung schlägt C.Ph.E. Bach vor, wenn auch er fordert, den Sänger nicht ganz aussingen zu lassen, sondern »schon bey den letzten Silben die von Rechtswegen erst darauf folgende Harmonien, damit die übrigen Bässe oder Instrumente sich bey Zeiten hiernach richten und mit einfallen können«.20 Hier scheint die akkordisch antizipierte Plazierung tatsächlich lediglich aus rein technisch-aufführungspraktischen Gründen gefordert, um den gemeinsamen Einsatz zu erlangen. Doch nur fünfzehn Jahre später (bzw. sechs Jahre, berücksichtigt man Bachs erweiterte Ausgabe von 1762) forderte Joseph Haydn im Vorwort seines »Applausus« im entfernten Eisenstadt, wo vielleicht eine andere Rezitativ-Ausführung gepflegt wurde, eine dieser Praxis offenbar entgegengesetzte Gestaltung, auch wenn es sich zunächst nur um Accompagnati und Rezitative einer Kantate handelt.
Weil Haydn bei der Einstudierung und Aufführung nicht selbst hatte zugegen sein können, machte er für die Ausführenden Vorschläge, u.a. auch zum Rezitativ oder, um genau zu sein, zum Accompagnato-Rezitativ, und wies sie an: »wohl zu observieren, daß das Akkompagnement nicht eher hereintrete, als bis der Sänger vollkommen den Text abgesungen, obwohlen sich das Kontrarium in der Spartitur öfters zeiget.« Haydn verlangt, daß stets »die letzte Silbe von den Rezitierenden vollkommen gehöret werden, [man] alsdann aber geschwind den Einfall machen [muß]; denn es würde sehr lächerlich sein, wann man dem Sänger das Wort vom Mund herabgeigete« [...] »Dieses lasse ich den Cembalisten über, und nach ihme müssen sich alle anderen richten«.21 Die von Haydn geforderte Ausführung umgeht jegliche Dissonanzen bei Kadenzierungen, da das Continuo stets nach dem Sänger einsetzen soll. Und warum, so wäre zu fragen, sollte dies nicht auch für die Oper gelten, wo die Verständlichkeit von Text und Handlung gewiß nicht weniger gefordert ist?
Ein weiteres Beispiel für die heutige Tendenz zum Nivellement ist die fast allgemein akzeptierte 415-Hertz-Stimmung der Instrumente. Der Ton aber, »in welchem die Orchester zu stimmen pflegen, ist nach Beschaffenheit der Orte und Zeiten immer sehr verschieden gewesen«22 - und er sollte, so möchte man Quantz ergänzen, in der heutigen Praxis je nach Provenienz des aufzuführenden Stückes ebenfalls verschieden sein. Einen international verbindlichen Stimmton gab es nicht, wohl aber einen gravierenden Wandel, von dem Quantz berichtet, man habe damals in Deutschland angefangen, »den hohen Chorton mit dem Kammertone zu verwechseln: wie auch nunmehro einige der berühmtesten Orgeln beweisen: Der venezianische Ton ist itziger Zeit eigentlich der höchste, und unserem alten Chortone fast ähnlich. Der römische Ton war, vor etlichen und zwanzig Jahren, tief, und dem Pariser Tone gleich. Anitzo aber fängt man an, den Pariser Ton dem venezianischen fast gleich zu machen«.23 Quantz präferierte offenbar die französische Stimmung, die er »angenehm tief« nennt.
Daß es viele verschiedene Gebräuche gab, weiß jedes bessere Musiklexikon;24 nicht nur zwischen Ländern und Musikkulturen, auch von Ort zu Ort konnte der Stimmton schwanken, selbst zwischen Leipziger und Dresdner Stimmung wurde unterschieden, aber auch zwischen Stimmtönen für verschiedene Gattungen. Dem sollte Rechnung getragen werden, um die couleur locale eines Musikstücks, die ja auch ein Stück historischer Identität bedeutet, zu unterstreichen. Aber wie bei der Stimmtonhöhe ist auch bei den Stimmsystemen eine Standardisierung zu beobachten, die die Vielfalt der nationalen, lokalen, epochen- und gattungsspezifischen Zusammenhänge, in denen sie Einsatz fanden, ignoriert.25
Zu zwei weiteren Fehlentwicklungen, die nachhaltig in die Musikpraxis hineinwirken, obwohl sie jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren, sei noch eine Anmerkung gestattet.
Zu den umstrittensten Fragen im Bereich des Instrumentariums gehört die historisch kaum zu belegende Verwendung sogenannter Überblas- oder Korrekturlöcher beim Spiel der ventillosen Trompete. Kaum ein Trompeter kommt ohne solche Modifikationen aus. Sie gehen zurück auf Versuche, die der Holzblasinstrumentenmacher und Fagottist der Cappella Coloniensis, Otto Steinkopf, und der Blechblasinstrumentenmacher Helmut Finke Ende der 50er Jahre durchführten. Durch drei im oberen Rohrbereich des Instruments gebohrte Löcher erreichten Steinkopf/Finke, »daß einerseits eine Selektion der geradzahligen oder ungeradzahligen Töne der Oberton-/Naturtonreihe, andererseits die Transposition in eine andere Grundstimmung des Instrumentes möglich wurde«.26 Mit diesem Eingriff war es sodann möglich, die unsauberen 7., 11. und 13. Obertöne auszuschalten bzw. durch ,,reine'' zu ersetzen. Zwar kannte schon Mersenne diese Möglichkeit, aber erst aus dem Jahr 1787 liegt eine englische Griffloch-Trompete vor; daß dies jedoch eine verbreitete Praxis war, widerlegen eigentlich die zahlreichen Instrumente, die ohne Grifflöcher auf uns gekommen sind.27 Bei der heute fast ausschließlichen Verwendung modifizierter Trompeten stellt sich die Frage, ob durch einen solchen Eingriff - man ist geneigt, es einen Trick zu nennen - nicht ästhetische Qualitäten, die ja auch in der instrumentenspezifischen Unsauberkeit bestimmter Töne liegen können, verlorengehen, obwohl die Benutzung der Grifflöcher die Intonationssicherheit zweifellos erhöht.28
Von vergleichsweise geringer praktischer Konsequenz blieb eine Diskussion, die Mitte der 70er Jahre durch Erich
Schwandt ausgelöst wurde und seither wiederholt für Aufsehen gesorgt hat. Gemeint ist die Theorie des halben
Tempos, die Schwandt in seinem Aufsatz »L'Affilard on the French Court Dances« unterbreitete. Die These besagt,
die historischen Tempoangaben seien halbiert zu denken, was nichts anderes bedeutet, als daß alle Musik nur halb
so schnell wie sonst üblich gespielt werden soll.29 Wilhelm Reetze Talsma knüpfte 1980 in einer großangelegten
Studie an Schwandt an, wandelte dessen Kernaussage aber dahin gehend ab, »daß nur schnelle Tempi zu halbieren
seien«.30 In zwei Aufsätzen hielt Richard Erig an der generellen Halbierung fest,31 jedoch erwies sich Talsmas
These als die beständigere, wie es die Arbeiten von Jan van Bieren, Frans Heijdemann, Clemens von Glück und
Grete Wehmeyer belegen.32 Widerspruch erwuchs vor allem Talsma, der seine Tempoauslegung als »metrisch«
auswies, in Arbeiten von Auhagen, Miehling und Krones, in denen die Richtigkeit und Eindeutigkeit der historischen
Metronomangaben durch zahlreiches Quellenmaterial überzeugend belegt wurde.33 Auch aus der Praxis wurden
Stimmen laut, die sich gegen eine Ausführung im halben Tempo aussprachen, so etwa in zwei Aufsätzen der Flötist
Konrad Hünteler.34 - Beispiele wie diese zeigen, daß auch nach annähernd hundertjähriger Forschertätigkeit und
praktischer Erfahrung auf dem Gebiet der historischen Aufführungspraxis kein Stillstand eingetreten ist. Die
Renaissance dauert an.
Anmerkungen zu Kapitel V